Michael Rothberg über Holocaust und Kolonialverbrechen - "Erinnerung ist kein Nullsummenspiel" (2024)

Michael Rothberg über Holocaust und Kolonialverbrechen

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Michael Rothberg im Gespräch mit René Aguigah |

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Darf man den Holocaust mit anderen Gewaltverbrechen vergleichen? Darüber wird in Deutschland gerade heftig diskutiert. Der US-Forscher Michael Rothberg sagt: Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus standen immer schon im Dialog.

Aus dem PodcastSein und Streit

War der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, ein singuläres Ereignis? Oder kann man ihn mit anderen Gewaltverbrechen vergleichen, beispielsweise mit dem Kolonialismus? Über diese Frage wird in Deutschland seit Monaten heftig diskutiert.

Einer der Anlässe für diese Debatte – neben vielen anderen – ist, dass Anfang des Jahres ein Buch auf Deutsch veröffentlicht wurde, das im englischen Original bereits vor mehr als zehn Jahren erschienen war: "Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung". Geschrieben hat es der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, der an der University of California in Los Angeles lehrt und die deutsche Debatte aus der Ferne verfolgt.

Absichtliches Missverstehen

Von der heftigen Reaktion auf sein Buch zeigt sich Rothberg sichtlich überrascht: "Ich bin ehrlich gesagt ein wenig überrumpelt von der Reaktion in Deutschland, nirgendwo sonst hat es eine derartige Kontroverse gegeben." Im Gegenteil: In der internationalen Wissenschaftsgemeinde sei sein Buch sehr positiv aufgenommen worden und seit Langem eine Art Standardwerk der Holocaust- und Erinnerungsforschung.

Warum aber stößt es in Deutschland auf so viel Ablehnung? "Vieles davon scheint mir auf Missverständnisse zurückzuführen sein – und in manchen Fällen auf absichtliches Missverstehen. Erstaunlich viele der Kritikerinnen und Kritiker scheinen meine zentralen Argumentationen zu ignorieren."

Verschiedene Erinnerungen im Dialog

Rothberg argumentiert in dem Buch gegen eine Vorstellung von öffentlichem Gedenken als geschlossenem System mit knappen Ressourcen, "das auf der Logik eines Nullsummenspiels beruht", in dem also die Erinnerung an ein Ereignis zwangsläufig auf Kosten eines anderen geht: "So funktioniert Erinnerung nicht. Sie ist viel offener und dynamischer."

Mit dem Begriff "multidirektional" meint Rothberg, dass Erinnerungen etwa an verschiedene Gewaltverbrechen nicht unbedingt miteinander konkurrieren – im Gegenteil: "Ich bin der Meinung, dass verschiedenste Formen des Erinnerns auch in einen Dialog treten können."

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Michael Rothberg lehrt vergleichende Literaturwissenschaften an der University of California.© UCLA Alan D. Leve Center for Jewish Studies / David Wu

In seinem Buch erläutert er diese These, indem er die historische Verständigung über das Holocaust-Gedenken in der Nachkriegszeit untersucht und dabei feststellt, "dass es zwischen Holocaust-Gedenken einerseits und Erinnerung an Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus andererseits von Anfang an eine viel produktivere Beziehung gegeben hatte; dass das, was wir heute als Holocaust-Gedenken verstehen, tatsächlich im Dialog mit diesen anderen Erinnerungen und Ereignissen entstand und in Auseinandersetzung mit dem Prozess der Dekolonisierung, der in diesen Jahrzehnten Fahrt aufnahm."

Dabei betont Rothberg: "Es geht nicht darum, diese Geschichten aufeinander zu reduzieren, sondern die Dynamik des Erinnerns und öffentlichen Gedenkens besser zu verstehen und wie diese Erinnerungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer in Beziehung zueinander artikuliert worden sind."

Als Beispiel dafür nennt er, neben den Schriften von Hannah Arendt und Aimé Césaire, die französischen Reaktionen auf den algerischen Unabhängigkeitskampf Anfang der 1960er-Jahre: "Plötzlich gibt es auch von Franzosen ausgeübte Massenfolterungen, es gibt Konzentrationslager, in denen Hunderttausende von Algeriern eingesperrt werden."

Auch wenn das aus heutiger Perspektive zwei ganz verschiedene historische Entwicklungen seien, habe es in den damaligen Zeitgenossen "unangenehme Erinnerungen an die Nazi-Verbrechen" hervorgerufen. Etwa, als die französische Polizei am 17. Oktober 1961 in Paris ein Massaker an demonstrierenden Algeriern verübt oder Tausende Algerier in einem Sportstadion zusammentreibt.

Beziehungen aufzeigen, ohne gleichzusetzen

Entsprechend deutlich wehrt sich Rothberg gegen den Vorwurf, der in der deutschen Debatte immer wieder laut wurde, er leugne die Singularität des Holocaust: "Was mich interessiert, sind relationale Annäherungen an den Holocaust. Aber Relationalität heißt nicht, die Singularität zu leugnen. Wir können verschiedene Geschichten und Erinnerungen in Beziehung zueinander denken, ohne eine davon auf die andere zu reduzieren: weder den Holocaust auf den Kolonialismus noch andersherum."

So wichtig es historisch gewesen sei, "festzustellen, was am Holocaust einzigartig ist", so gehöre es doch ebenso zur historischen Arbeit, herauszuarbeiten, wo der Holocaust und die Erinnerung an ihn "mit anderen Geschichten politischer Gewalt überlappt". Gegenüber einem solch abwägenden Verständnis von Singularität beobachtet Rothberg in der deutschen Debatte mit Sorge "einen Diskurs über Singularität, der dazu tendiert, den Holocaust zu enthistorisieren, ihn aus der Geschichte herauszunehmen, statt ihn tiefer in sie einzubetten".

Einem solchen "Dogma" der Singularität stehe er kritisch gegenüber: "Viele der feindseligen Reaktionen auf mein Buch scheinen mir diesen zunehmend rigiden Erinnerungsdiskurs in Deutschland widerzuspiegeln."

Mehr Verantwortung, statt weniger

Besonders überraschend erscheint Rothberg der Vorwurf, er wolle "Deutschland die Verantwortung für den Holocaust wegnehmen. Das ist das letzte, was ich möchte." Ganz im Gegenteil: In seinem jüngsten Buch, "Implicated Subjects" (zu deutsch etwa: Eingebundene Subjekte), gehe es ihm gerade darum, unser Verantwortungsgefühl zu erweitern: "Was für eine Verantwortung tragen wir, wenn wir weder Opfer noch Täter sind, aber indirekt Ausbeutung oder Gewalt mit ermöglichen?"

Vielfältige Verantwortung, vielfältige Erinnerung: Rothberg geht es darum, unseren Blick zu weiten. Den Kern der deutschen Debatte sieht er gerade in der Frage, inwiefern eine solche Erweiterung der Erinnerungsarbeit stattfinden soll: "Soll es nur eine singuläre Erinnerungsarbeit geben oder eher eine multidirektionale Erinnerungsarbeit?"

Zwar würden neue Formen einer vielfältigen Erinnerung durchaus schon praktiziert – aber: "Das ist immer noch nicht wirklich anerkannt, weil es, glaube ich, immer noch starke Kräfte gibt, die sich gegen eine Öffnung des Erinnerungsdiskurses sträuben."

(ch)

Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung
Aus dem Englischen von Max Henninger
Metropol Verlag, Berlin 2021
404 Seiten, 26 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Philosophische Flaschenpost – Wang Yangming über Verstehen und Handeln
Wer Kritik an zu zögerlicher Klimapolitik äußert, unterstreicht das oft mit einem Zitat des chinesischen Philosophen Wang Yangming: "Wer verstanden hat und nicht handelt, hat nicht verstanden." Wie war es gemeint und was sagt es uns heute? Der Sinologe Hans van Ess gibt Antwort.

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