Michael Rothberg: "Wir brauchen neue Wege, um über Erinnerung nachzudenken" (2024)

Was bedeutet heute die Erinnerung an den Holocaust? Ein Gespräch mit Michael Rothberg, dessen Buch "Multidirektionale Erinnerung" in Deutschland auf Kritik stößt.

Interview: Elisabeth von Thadden

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Als im Februar die deutschsprachige Übersetzung des im englischsprachigen Original bereits im Jahr 2009 erstmals erschienenen Buchs "Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization" des Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg herauskam, entzündete sich daran eine neue Debatte um die Erinnerungskultur gerade auch in Deutschland. In Texten etwa in der "Welt" ebenso wie der "taz" wurden Rothbergs Thesen kritisch hinterfragt. Welche aber genau sind das? Das Gespräch mit Rothberg, der an der University of California in Los Angeles lehrt, wurde per E-Mail auf Englisch geführt und später ins Deutsche übersetzt.

ZEIT ONLINE: Die Erinnerung ist in dieDebatte zurückgekehrt. Wie lässt sichheute an das singuläre Menschheitsverbrechen des Holocausts erinnern– währenddie Opfer des Kolonialismus, die Kriegsflüchtlinge und Migranten um dieErinnerung an ihre Traumata ringen?

Michael Rothberg: Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt:Definitionsgemäß stellt sie eine Verbindung zwischen dem Moment des Erinnernsund der Vergangenheit her, an die erinnert wird. Diese grundlegende Eigenschaftdes Gedächtnisses bedeutet, dass die Erinnerung an den Holocaust, wie singulärer historisch auch ist, notwendigerweise relational sein wird – das heißt mitanderen Geschichten und mit der Gegenwart, aus der heraus man an ihn erinnert,in Verbindung stehen wird.

ZEIT ONLINE: Welche Gegenwart ist das?

Rothberg: In den vergangenen 30 Jahren ist das Holocaust-Gedenkenglobalisiert worden und entwickelte sich zur Grundlage der "negativenErinnerung" Deutschlands und Europas. So kam es natürlich noch enger in Berührungmit einer Reihe anderer Themen, die zentral für die europäische Identität sind:die Ost-West-Spaltung, die Frage des kolonialen Erbes, die Migration sowie dieFlüchtlingsströme, jüngst dann der Aufstieg der Rechtsextremen. All diesgeschieht mitten in einem Generationenwechsel, während die Augenzeuginnen desZweiten Weltkriegs von der Bühne abtreten. Der Holocaust muss selbstverständlicheinen herausragenden Platz im kollektiven europäischen Gedächtnis einnehmen.Wir brauchen aber neue Wege, um relational über jene Erinnerung nachzudenken.

ZEIT ONLINE: Wasmeinen Sie mit neuen Wegen? Wie lassen sich die Einzigartigkeit des Holocaustsund der Vergleich mit anderen massenmörderischen Verbrechen zusammendenken?

Rothberg: Mit neuen Wegen meine ich, dass wir wissenschaftlicheMethoden – ebenso wie öffentliche Erinnerungskulturen – brauchen, die sichnicht scheuen, relational über den Holocaust nachzudenken, auch wenn sie sichvor der Relativierung und Verharmlosung aller Formen von historischer Gewaltschützen müssen. Wie Sie wissen, bin ich nicht Historiker, sondernLiteraturwissenschaftler. In meinem Buch Multidirektionale Erinnerunguntersuche ich mithin, wie des Holocausts im Verhältnis zu anderenGewalterinnerungen gedacht worden ist– vor allem denen des Kolonialismusund der Sklaverei. Mein Hauptargument betrifft die Dynamik: Ich behaupte, dasssich die kollektiven Erinnerungen an verschiedene Geschichten im Dialogmiteinander entwickeln und dass der Dialog und die Spannung etwas Produktivessind. Dies schließt die Beobachtung ein, dass die öffentliche Wahrnehmung desHolocausts von Anfang an im Zusammenhang der Dekolonisierung erfolgte, alsojust zu dem Zeitpunkt, als auch die kolonialen Hinterlassenschaften verarbeitetwurden. Sowohl jüdische Intellektuelle als auch Intellektuelle aus denKontexten der schwarzen Diaspora und des Kolonialismus – darunter HannahArendt, Aimé Césaire, W. E. B. Du Bois und André Schwarz-Bart – reflektiertenden Holocaust zusammen mit der Geschichte der kolonialen und rassistischenGewalt in der frühen Nachkriegszeit. Diese Tradition – oder vielleichtGegentradition – besteht bis heute.

ZEIT ONLINE: Aberwelches sind die Kriterien des Vergleichens?

Rothberg: Wenn ich verallgemeinern müsste, würde ich sagen, dassVergleiche zwischen dem Holocaust und anderen Gewaltgeschichten für mich dannam erhellendsten sind, wenn sie uns aufzeigen können, was manche Ereignissegemeinsam haben, etwa, wie Feindgruppen definiert werden oder welche Rolle Bürokratienbei Massenmorden spielen, aber auch, was sie unterscheidet – im Ausmaß derGewalt oder in den Mitteln der Zerstörung.

ZEIT ONLINE: Nehmenwir ein Beispiel Ihres Buchs: Sie berichten, wie der Schwarze Intellektuelle W. E. B.Du Bois im Jahr 1949 die Ruinen des Warschauer Ghettos besucht. Sie schreiben,wie er dort sowohl "die präzedenzlose Radikalität des Holocausts" erkannte "wieauch seine Verbindungen zu der ganz anderen Form des Rassismus, die er alsSchwarzer Amerikaner erlebt hatte". Was genau ist präzedenzlos? Was genau sinddie Verbindungen?

Rothberg: Was Du Bois 1949 in Warschau sah, war die völlige Zerstörungder Stadt – und vor allem des früheren Ghettos. Er zog eine Verbindung zwischendieser Vernichtung einer ganzen Infrastruktur und der Vernichtung des jüdischenVolkes, die einige Jahre zuvor stattgefunden hatte. Er erkannte, dass diesnicht dieselbe Form von Gewalt war, die durch Sklaverei und Segregation an denAfroamerikanern verübt worden war – ja, er sagt, dass nichts, was er je gesehenhat, dem "gleichkomme", was ihm in Warschau vor Augen steht. Er meint aberauch, dass es Möglichkeiten gibt, relational über rassistische Gewaltnachzudenken. Und er erklärt, dass er seine eigene Erfahrung nicht mehr als "getrenntund einzigartig" ansieht. Seine Vorstellung von Geschichten als nicht gleich,aber auch nicht getrennt und einzigartig, stellt für mich geradezu die ethischeVersion multidirektionaler Erinnerung dar.

ZEIT ONLINE: Wiehängen in dieser Perspektive rassistische Gewalt und Nationalsozialismuszusammen?

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