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Von: Micha Brumlik
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Gedenken, ohne zu verrechnen – Michael Rothbergs revolutionäre Theorie „multidirektionalen“ Erinnerns.
Wie sich, ohne die Leiderfahrungen der Kolonialherrschaft zu vernachlässigen, über das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoah nachdenken lässt, hat schon Jahre vor der deutschen Mbembe-Debatte der US-amerikanische Historiker Michael Rothberg – er lehrt vergleichende Literaturwissenschaft und Holocauststudien – in einem endlich auf Deutsch erschienenen Buch gezeigt. Seinen Kerngedanken hatte Rothberg schon während der Debatte um die als antisemitisch angegriffene Kritik israelischer Politik von Achille Mbembe in einer Zeitschrift des Goethe-Instituts geäußert: „Meiner Theorie der multidirektionalen Erinnerung liegt die Annahme zugrunde, dass (...) der Vorgang des Erinnerns nicht der Logik des Nullsummenspiels folgt. Vielmehr entwickeln sich alle Erinnerungskulturen dialogisch, durch Anleihen, Aneignungen, Gegenüberstellungen und Wiederholungen anderer Geschichten und anderer Erinnerungstraditionen. (...) Zum Teil können wir in der Mbembe-Debatte die bereits bekannte Tatsache beobachten, dass sich mit der Globalisierung des Holocaust-Gedenkens dieses Gedenken auch zu einer Plattform entwickelte, auf der andere Erinnerungen an Gewalterfahrungen zum Ausdruck gebracht werden konnten. Dies bezieht sich besonders auf die Zeit der Sklaverei und des Kolonialismus.“
Diesen Gedanken hat Rothberg in seinem bahnbrechenden, 2009 auf Englisch herausgekommenen Werk „Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonisation“ entfaltet – einem Werk, das die Chance eröffnet, die festgefahrenen Fronten nicht zuletzt der Debatte um die Arbeiten Mbembes zu überwinden.
Der Sinn der Unterschiede
„Multidirektionales Erinnern“ im Sinne Rothbergs gewinnt seinen Sinn genau dann, wenn unterschiedliche Erinnerungen an unterschiedliche Verbrechen das, worum es jeweils geht – nämlich im weitesten Sinne genozidale Untaten – weiter verdeutlicht werden sollen. Die Entfaltung dieses Konzepts gelingt Rothberg dadurch, dass er sich keineswegs nur auf historiographische Arbeiten im engeren Sinne bezieht, sondern vor allem auf literarische und filmische Kunstwerke sowie auf Tagebuchaufzeichnungen.
Das Buch:
Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. A. d. Engl. v. Max Henninger. Metropol, Berlin 2021. 404 S., 26 Euro.
So kann Rothberg zeigen, dass 1961, das Jahr der Eröffnung des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann, auch und gerade im Blick auf eine globale Erinnerung eine zentrale Rolle spielt. Wurde doch im Mai dieses Jahres nicht nur dieser Prozess eröffnet – nein, am 17. Oktober 1961 ereignete sich in Paris ein im Auftrag der Polizeiverwaltung veranstaltetes Massaker an friedlichen algerischen Demonstranten und Demonstrantinnen, dem zweihundert Menschen zum Opfer fielen. Nicht wenige französische Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller – etwa die in Birkenau und Ravensbrück Inhaftierte Charlotte Delbo sowie der Althistoriker Pierre Vidal-Nacquet, dessen Eltern in der Shoah ermordet wurden – erinnerten sich angesichts dieses Massakers an die Untaten der Nationalsozialisten und ihrer französischen Kollaborateure: vor allem des damaligen Polizeipräfekten von Paris, Maurice Papon. Es war derselbe Papon, der etwa zwanzig Jahre später das genannte Massaker zu verantworten hatte. Papon wurde – wiederum Jahre später – der Prozess ob seiner Kollaboration mit den Deutschen bei der Judendeportation gemacht: 1998 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren verurteilt, von denen er drei absaß.
Doch war „Kolonialismus und Holocaust“ schon früh Thema politischer Philosophie. So hatte Hannah Arendt in ihrem 1951 erstmalig publizierten Buch über die Ursprünge des Totalitarismus – wenn auch mit falschem Zungenschlag – die europäische Erfahrung in den afrikanischen Kolonien als Ursprung des Rassismus namhaft gemacht. In der Folge , und dies hebt Michael Rothberg hervor, wies der 1913 in Martinique geborene Autor Aimé Césaire, einer der Begründer des Konzepts der „Négritude“, das Nachwirken des Hitler’schen Gedankenguts in der französischen Bourgeoisie überzeugend nach.
Dabei war Césaire keineswegs der erste und einzige Aktivist, der sich vor dem Hintergrund des gegen Schwarze gerichteten Rassismus mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzte. Der US-amerikanische, schwarze Intellektuelle W.E.B. DuBois (1868-1963) war nicht nur der Begründer der antirassistischen Theorie der „Color Line“, sondern auch ein Liebhaber der deutschen Kultur. Indes: 1949 besuchte DuBois, der Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland studiert hatte, die Überreste des Warschauer Ghettos. Über diesen Besuch, verfasste er eine kurze Aufzeichnung: „The Negro and the Warsaw Ghetto“ fand einige Jahre später in seinem Essay „Jewish Life“ seine Fortsetzung. Dort heißt es: „Das Ergebnis (...) meiner Besichtigung des Warschauer Ghettos war nicht so sehr ein klareres Verständnis des jüdischen Problems in der Welt, sondern ein reelles und umfassenderes des Problems der Schwarzen. Zunächst einmal war das Problem der Sklaverei, der Emanzipation und der Kastenzugehörigkeit in den Vereinigten Staaten (...) nicht mehr eine eigenständige und einzigartige Sache wie ich es mir lange vorgestellt hatte. (...) Das Rassenproblem, an dem ich interessiert war, lag quer zu Fragen der Hautfarbe, des Körperbaus, der Religion und des Status; es ging darin um kulturelle Muster, pervertierte Lehren, menschlichen Hass und Vorurteile, die alle möglichen Menschen betrafen und endlose Übel verursachten.“
Bei alledem scheut sich Rothberg nicht, das Thema der – wie er es nennt – „verschränkten Archive“ auch am Beispiel des Israel-Palästina-Konflikts zu diskutieren. So beschließt er sein Buch, indem er auf des israelischen Historikers Morris’ zynische Rechtfertigung der Palästinenservertreibung – ohne die der Staat Israel nicht hätte entstehen können – Bezug nimmt. Und das mit Worten, die als Maxime künftigen Gedenkens in einer globalisierten Welt gelten können und denen allenfalls hinzuzufügen wäre, dass auch und gerade Mbembe gut beraten gewesen wäre, sie in seinen Texten zu Israel zu berücksichtigen.
Unselige Konkurrenzen
Rothberg gelingt es, mit seinem Konzept einer „multidirectional memory“ (dt.: eines „multiperspektivischen Gedenkens“ ), der unseligen, allemal politisch instrumentalisierbaren Konkurrenz von Erinnerungen eine universalistische, allen Opfern zukommende anamnetische Solidarität entgegenzusetzen. Damit weist Rothberg einen konstruktiven Ausweg aus der oft behaupteten Unmöglichkeit, die Singularität des Holocaust zu anderen Menschheitsverbrechen in Verhältnis zu setzen. Dass das für Rothberg umgekehrt nicht bedeutet, genozidale Verbrechen unterschiedlicher Reichweite in ihrer Grausamkeit und Größenordnung schlicht einander gleichzusetzen, sollte deutlich geworden sein. Gerade wenn „multidirektionales Erinnern“ zur fruchtbaren Perspektive einer ebenso solidarischen wie globalen Erinnerungskultur werden soll, die Ähnlichkeiten wie Unterschiede von Menschheitsverbrechen präzise benennt.